Analyse einer Medienkampagne

"Der Polizeipräsident fordert die Helmpflicht"

oder Schuster, bleib bei Deinen Leisten!

Am 14.2.2007 startete Herr Albers, Polizeipräsident in Bonn mit einem ganzseitigen Artikel im Bonner Generalanzeiger eine Kampagne für eine Helmpflicht für Radfahrer. Siehe dazu auch das Posting 45d2d83c$0$30736$9b622d9e@news.freenet.de von Bernd Roehling und den nachfolgenden Thread im Usenet.

Erster Eindruck vom Artikel:  same procedure as every year, Miss Sophie.

Jedes Jahr zur oder kurz vor der "Saure-Gurken-Zeit" füllen faule Redakteure die Zeitungsspalten mit reißerischen Berichten über radfahrende Rüpel, die "zu über 70% an ihren Unfällen selber schuld" sind, die nur durch bunte Narrenkappen vor dem sicheren Tod bewahrt werden können (als ob in den vergangenen hundert Jahren die Radfahrer wie die Fliegen gestorben wären). Usw.

(Quelle: der automatische Schuldzuweiser, 2001).

In diesem konkreten Fall beschränkt sich Herr Albers anhand der lokalen Bonner Unfallstatistik auf die Aussage "... hat beinahe jeder Zweite den Unfall durch vorschriftswidriges Verhalten selbst verschuldet".   Garniert wird das im weiteren Text mit dem Ergebnis einer Umfrage(!)  der Verwaltungsfachhochschule Köln unter Radfahrern, nach der 48% der Befragten glauben, daß Radfahrer "die meisten Verstöße" begingen.  Das ist aber kein Nachweis, sondern lediglich ein Beleg dafür, daß die Desinformation wirkt.  Selbst den Radfahrern hat dergleichen Berichterstattung etwas weisgemacht, das so gar nicht stimmt.  Sie glauben offenbar einer Aussage, die nachweislich falsch ist.  Denn selbst die verzerrende Darstellung von Herrn Albers (siehe dazu den nächsten Absatz) liefert dafür einen Nachweis: mehr als die Hälfte der an einem Unfall beteiligten Radfahrer hat den Unfall nicht selber verschuldet!

Der eigentliche Betrugsversuch in solchen Darstellungen liegt allerdings darin, daß der unbefangene Leser eine Ergänzung zu 100% vornimmt und deswegen glaubt, daß Radfahrer "die meisten Verstöße" begingen und die anderen Verkehrsteilnehmer entsprechend weniger Verstöße aufzuweisen hätten, also alle zusammen (!) nur so viele wie die Radfahrer alleine.

Dies ist aber nicht richtig, da der genannte Anteil i.d.R. nicht auf Basis der Unfälle, sondern auf Basis der Beteiligten kalkuliert wird. Da aber bei Alleinunfällen von Radfahrern der Radfahrer immer als Hauptverursacher ausgewiesen wird und da bei zwei beteiligten Radfahrern immer ebenfalls einer von beiden als Hauptverursacher ausgewiesen wird, ergeben sich automatisch hohe Prozentzahlen. Nach diesem Schema gerechnet hat weit mehr als jeder zweite verletzte Autofahrer seinen Unfall selber verschuldet!

Wollte man tatsächlich aufrechnen, so könnte man der allgemeinen Unfallstatistik entnehmen, daß 2005 in Deutschland zwar 42% aller unfallbeteiligten Radfahrer Hauptverursacher waren (mehr als die Hälfte, 58% also nicht!), daß bei Unfällen mit Pkw der Autofahrer aber zu 72%, bei Unfällen mit Güterkraftwagen sogar zu 78% der Hauptverursacher war!

(Quelle: "Zweiradunfälle im Straßenverkehr 2005", Statistisches Bundesamt)

"... bevor wir helfen müssen"

Mit Datum vom 26.2.2007 veröffentlicht die Hannelore-Kohl-Stiftung, bekannt/berüchtigt durch ihr menschenverachtendes, blutrünstiges Plakat "... bevor wir helfen müssen!" eine Pressemitteilung "Kommentar zur geforderten Helmpflicht", die im üblichen Verwirrstil  solcher Pamphlete geschrieben ist.

Leider beschränkt sich der Versuch einer Schuldumkehr, in der dem in den meisten Fällen an seinem Unfall unschuldigen Radfahrer die Schuld mit Zahlentricks herbeigerechnet werden soll, nicht nur auf solche Zahlenkunststücke, die man als Zeitvertreib einer augenscheinlich unterbeschäftigten Behörde abtun könnte. Man geht hier noch einen Schritt weiter und wirft dem Opfer vor, sich nicht ausreichend geschützt zu haben.

"Verletzter Fahrradfahrer trug keinen Helm"

Zwei Tage später, am 28.2.2007 wird mit der reißerischen Überschrift "Verletzter Fahrradfahrer trug keinen Helm" von einem Unfall berichtet, in dem ein Autofahrer beim Abbiegen auf der Baumschulalle (google maps) den Vorrang eines in gleicher Richtung auf dem Radstreifen geradeaus fahrenden Radfahrers mißachtet und diesen angefahren hatte. 

Im Text muß allerdings eingeräumt werden, daß die "befürchteten lebensgefährlichen Verletzungen" eine in der ersten Meldung von der Polizei lancierte Ente war.


"Helm verhindert schwere Verletzungen"

Einen Tag später veröffentlicht der GA die oben erwähnte Pressemitteilung der Hannelore-Kohl-Stiftung als Leserbrief (!), aber redaktionell aufgemacht, mit Überschrift und garniert mit einem dpa-Foto behelmter Radfahrer.

Noch am selben Vormittag verfasste ich einen Leserbrief (s.w.u.) zum obigen Artikel, der per Email sowohl an Frau Blesel, die beide erwähnten Artikel geschrieben hat, als auch an die Leserbriefredaktion des GA ging.

Ich fahre viel Rad und habe mich auch deswegen schon vor Jahren als Wissenschaftler (ich bin Universitäts-Informatiker, Nebenfach Mathematik) ein wenig mit der Frage beschäftigt, ob die selten hinterfragte Hypothesen "Radwege schützen, Helme schützen" zutreffen, ob es dazu tragfähige wissenschaftliche Nachweise gibt. Siehe dazu weiter unten.

Hier aber bin ich noch etwas mehr und noch etwas direkter betroffen. Die Stelle, an der der obige Unfall geschah, liegt auf der direkten Verbindung zum Haus meiner Schwiegereltern, weniger als einen Kilometer Luftlinie von meinem Haus entfernt und in Sichtweise des Gymnasiums meiner Kinder. Früher sind wir häufig zusammen mit den Kindern dort entlanggefahren.  Es ist ein Unfall, der auch uns hätte treffen können.

Radwege sind gefährlich, auch als Radstreifen!

Die durch Radwege verursachten Gefahren sind für jemanden, der sich informiert hat, seit Jahren bekannt und offensichtlich,  und sie sind unter dieser Voraussetzung bei hinreichender Erfahrung einigermaßen beherrschbar.

Aber kann man auch bei Kindern voraussetzen, daß sie jederzeit die lebensgefährliche Falle erkennen und daß sie die Gefahren einer widersinnigen Verkehrsführung verstehen und kompensieren können, wie sie durch Radwege und Radstreifen erzwungen wird? Ich denke nicht.  Häufig schaffen es ja nicht mal die erwachsenen Radfahrer. Und dieser Unfall in der Baumschulallee ist keineswegs das einzige Beispiel, wie der Unfall in Kessenich zeigte, bei der ein Lkw beim Abbiegen über den Radstreifen eine Radfahrerin überrollte.

Leider gibt es bei der Verbindung zwischen Süd- und Nordstadt kaum eine Möglichkeit mehr, die Baumschulallee zu meiden und eine radwegfreie Strecke zu finden, wenn man die Viktoriabrücke benutzen möchte und keine extremen Umwege fahren möchte.

Als von dieser Medienkampagne zur Vermarktung von bunten Plastikhüten unmittelbar betroffener Bonner Bürger habe ich also den nachfolgend reproduzierten Leserbrief an den Bonner Generalanzeiger geschrieben. Leider wurde er bisher (Stand 18.3., fast drei Wochen später) nicht veröffentlicht. Ich nehme an, eine skeptische Stimme passte einfach nicht in die mit vorgefertigten "Leserbriefen" von Verbandsfunktionären garnierte Pro-Helm-Kampagne.

Der Leserbrief zum Artikel "Verletzter Radfahrer trug keinen  Helm" ging am 1.3.07 per Email an die Leserbriefredaktion des Bonner Generalanzeiger (dialog@ga-bonn.de) sowie in Kopie an Frau Blesel (d.blesel@ga-bonn.de) als Autorin des besagten Artikels. Er wurde nicht abgedruckt. Eine stereotype Pressemitteilung eines Vereins mit einer etwas dubiosen Interessenlage und eine weitere Serie von sorgsam mit großer Überschrift und Foto "pro Helm" aufgemachter Texte oder auch ein Lamento über die "Hexenjagd gegen Raucher" sind als Leserbriefe wohl wichtiger als der kurze und knappe Einwand eines informierten und direkt betroffenen Bürgers dieser Stadt gegen eine Pressekampagne, mit der ein unnützes Quacksalbermittel vermarktet wird.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bitte um Veröffentlichung des nachfolgenden Leserbriefs

Das Opfer soll zum Täter gemacht werden

Radwege sind zwischen drei und 12 mal so gefährlich wie das Befahren der 
nebenliegenden unaufgeteilten Fahrbahn. Wer glaubte, dass Radstreifen 
diesen Mangel nicht hätten, müsste spätestens durch den Unfall in der 
Baumschulalle eines besseren belehrt worden sein.

Hier hat ein Autofahrer beim Abbiegen gegen §9 Abs. 3 StVO verstossen*) und 
beim Abbiegen den Vorrang eines geradeaus fahrenden Radfahrers nicht 
beachtet. Dies ist durch das per Radstreifen verbotene korrekte Einordnen 
schwierig, vor allem bei modernen Pkw mit schlechter Sicht nach rechts 
hinten, aber so ist nun einmal die Rechtslage.

Interessant ist allerdings der Versuch der Schuldumkehr, der sich aus dem 
penetranten Hinweis auf den Nichtgebrauch eines Helmes ergibt. Fahrradhelme 
sind weder gebräuchlich noch vorgeschrieben, auch ist ihre Unwirksamkeit 
bezüglich schwerer Verletzungen längst wissenschaftlich erwiesen.

Hingegen ist der Zusammenhang zwischen dem Typ des Fahrzeugs und der 
Verletzungsschwere bei einem Zusammenstoß zwischen Pkw und Fußgänger oder 
Radfahrer gut belegt, vor allem SUV**) sind hier längst als extrem 
gefährlich bekannt. Der Bonner Polizeipräsident wäre zu fragen, ob ihm eine 
Statistik vorliegt, die die entsprechenden Unfälle der letzten Jahre nach 
Typ des Kfz aufschlüsselt und warum er nicht ein Verbot der Fahrzeugtypen 
(z.B. von SUV und ähnlichen Fahrzeugen) fordert, die diese Statistik anführen?

*)
(3) Wer abbiegen will, muß entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren
lassen, Schienenfahrzeuge, Fahrräder mit Hilfsmotor und Radfahrer auch
dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung
fahren. Dies gilt auch gegenüber Linienomnibussen und sonstigen Fahr-
zeugen, die gekennzeichnete Sonderfahrstreifen benutzen. Auf Fußgänger
muß er besondere Rücksicht nehmen; wenn nötig, muß er warten.

**) http://de.wikipedia.org/wiki/Sports_Utility_Vehicle 

Mit freundlichen Grüßen
Soweit mein nicht abgedruckter Leserbrief.

Schützen Fahrradhelme? Sind sie überhaupt nötig?

Zur als Leserbrief abgedruckten Pressemitteilung der Hannelore-Kohl-Stiftung ist folgendes anzumerken:

Die Behauptung "Helm verhindert schwere Verletzungen" (gemeint ist wohl: ein Fahrradhelm verhindert schwere Kopfverletzungen - aber Präzision ist ja wohl nicht das Anliegen der ZNS im Allgemeinen oder von Herrn Prof. Dr. Bock und dieser Kampagne im Speziellen) ist nicht haltbar. Dies fällt gleich beim ersten mutmaßlich konkreten Beleg für diese Hypothese auf. Nach einigem Geschwurbel über "mehr als 40 Millionen Deutsche, die regelmäßig mit dem Fahrrad fahren" und daß die Zahl der verunfallten Radfahrer steige, und damit auch das Risiko einer tödlichen Kopfverletzung, heißt es - wörtlich -:

"Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie zeigt, dass pro Jahr 270000 Personen ein Schädelhirntrauma (SHT) erleiden, davon 70200 durch Verkehrsunfall."

Man benötigt aber keine "im letzten Jahr veröffentlichte Studie", ein Blick in ein Textbuch der Neurologie (oder in die Tabelle der Sterbefälle nach Todesursache im statistischen Jahrbuch) liefert bereits diese Information.  Es geht bei diesen Zahlen nämlich gar nicht um Radfahrer!

Wer die Unfallstatistik aber nicht kennt und hier zu lesen aufhört, dürfte leicht der Suggestion unterliegen, daß im Jahr etwa jeder 150. Radfahrer ein Schädelhirntrauma erleidet. Dem ist aber nicht so: es wurde zwar nicht gesagt (aber durch den vorherigen Bezug auf "Fahrrad fahren" nur sorgsam vernebelt), es war von allen Einwohnern von Deutschland die Rede! Von den rund 82 Mio Einwohnern von Deutschland erleidet im Jahr etwa einer von 300 ein SHT.

Die Zahl mag hoch erscheinen, jedoch muß man berücksichtigen, daß hier Verletzungen sehr unterschiedlicher Schweregrade in einen Topf geworfen wurden. Auch eine Gehirnerschütterung wird als SHT klassifiziert. Drückt man es etwas anders aus, nämlich dass ein durchschnittlicher Deutscher in seinem ganzen Leben vermutlich kein SHT (also nicht mal eine Gehirnerschütterung) erleiden wird, dann wird verständlich, warum sich kein Autofahrer (knapp 2833 Todesfälle in 2004), kein Fußgänger (686 Todesfälle in 2004) und kein Radfahrer (575 Todesfälle in 2004) einen Helm aufsetzen mag. Das Risiko ist unbestreitbar vorhanden, aber man man hält es für geringfügig und hinnehmbar. Zum Vergleich und um das Risiko von der Größenordnung her abzuschätzen: im Haushalt ist die häufigste Todesursache ein Sturz, es werden jährlich rund 5000 tödliche Stürze im Haushalt gezählt. Übrigens ist bei tödlichen Unfällen generell in den meisten Fällen eine Kopfverletzung die Ursache, das beschränkt sich keineswegs auf Radfahrer [1]. 

Todesursache Sturz Warum fordert die Hannelore-Kohl-Stiftung eigentlich keine Treppenhelme?

Ginge es bei der Angst vor Kopfverletzungen also nach dem Verstand, wäre das Mittel der Wahl ein Treppenhelm. Und dann vielleicht ein Autohelm.

Auch meine Tageszeitung veröffentlichte letztes Jahr die auf Daten des Statistischen Bundesamtes basierende dpa-Meldung, nach der im vergangenen Jahr (2005) 1071 Menschen bei Stürzen auf Treppen tödlich verunglückten, Tendenz steigend.

Damit verglichen sind die um die 100 Todesfälle durch Sturz vom Fahrrad (Tendenz konstant) zu vernachlässigen. Selbst Stürze im Zusammenhang mit Betten machen zahlenmäßig mehr aus.

Bei anderen Todesursachen beim Radfahren, z.B. Zusammenstoß mit Kfz, liegen die Geschwindigkeiten und damit die wirkenden Kräfte in der Regel weit ausserhalb des theoretischen Wirkbereichs von Fahrradhelmen, diese werden nicht ohne Grund Sturzhelme genannt. Eine entsprechende Schutzwirkung wird trotz besseren Wissens zwar gerne zwischen den Zeilen suggeriert, aber selbst die eifrigsten Befürworter vermeiden es, sie explizit zu behaupten. Auch die Prüfnormen versuchen lediglich den Sturz aus normaler Fußgängerhöhe zu simulieren, wobei die ohnehin grenzwertigen Anforderungen schon für den Fall des Aufschlags auf eine Kante noch weiter reduziert werden.


Auch die weiteren Aussagen von Herrn Dr. Bock sind, gelinde gesagt, verblüffend, jedenfalls dann, wenn man sie in Bezug zu der aufgestellten Forderung nach einer Helmpflicht für Radfahrer stellt

"Annähernd 85% der schädelhirntraumatisierten Fahrradfahrer trugen keinen Helm".

Ohne eine Angabe einer Helmtragequote in der Grundgesamtheit der Radfahrer ist diese Angabe einigermaßen nutzlos. Denn erst diese Quote erlaubt die Feststellung, ob im Zusammenhang mit dem Helmtragen tatsächlich weniger Fahrradfahrer ein Schädelhirntrauma erleiden.

Ein Rechenbeispiel:

Nehmen wir beispielsweise an, daß von 1000 Radfahrern 300, also 30% einen Helm tragen. Nehmen wir an, daß einige dieser Radfahrer so schwer verunglücken, daß sie ein SHT erleiden.  Auf den genauen Anteil kommt es hier nicht an. Nehmen wir also der Einfachheit halber an,  daß jeder Zehnte schwer verunglückt, daß also von den 100 Radfahrern, die so schwer verunglücken, daß sie ohne Helm auf jeden Fall ein SHT erlitten hätten und im Krankenhaus gelandet wären, ebenfalls 30%, also 30 Personen einen Helm tragen, 70 Personen aber nicht.  Dann würden bei einem völlig unwirksamen Helm genau 70% der schädelhirntraumatisierten Radfahrer keinen Helm tragen, wenn sie im Krankenhaus auftauchen. Denn es würden ja unterschiedslos alle 100 Personen, 30 Helmträger und 70 andere, im Krankenhaus auftauchen.

Bei einem 100%ig wirksamen Helm hingegen würde kein einziger der aufgenommenen 70 Radfahrer einen Helm getragen haben. Bei einem 50%ig wirksamen Helm, der im Mittel jeden zweiten der Helmträger schützte, würden in unserem Beispiel nur 85 Radfahrer in der Neurologie auftauchen, denn die restlichen 15 wären ja von ihrem Helm geschützt worden,  70 ohne Helm, 15 mit.  82%.  Bei 60% Wirksamkeit des Helmes wären es 70 ohne Helm, 12 mit Helm, 85% der schädelhirntraumatisierten Fahrradfahrer hätten keinen Helm getragen.

Das käme also hin: annähernd 85% der schädelhirntraumatisierten Fahrradfahrer trügen in diesem Rechenbeispiel keinen Helm, bei einem zu 60% wirksamen Helm und einer Helmtragequote von 30%.

Aber das war, wie gesagt, nur ein Rechenbeispiel. Denn die Frage ist natürlich: wie hoch ist die Helmtragequote wirklich? Und da wird es wirklich spannend.

Helmtragequoten

Die Bundesanstalt für Straßenwesen erhebt und veröffentlicht nämlich regelmäßig Helmtragequoten.

Wie im Vorjahr trugen 6% der Fahrradfahrer im Jahr 2005 einen Schutzhelm, so dass der Gesamtanteil der schutzhelmtragenden Fahrradfahrer weiterhin auf einem niedrigen Niveau bleibt.
(Quelle: http://www.bast.de/DE/Publikationen/Infos/2007-2006/01-2006.html)

Diese Gesamtzahl setzt sich aus einer hohen Helmtragequote bei Kindern und einer zwischen 2 und 4 % schwankenden bei Erwachsenen zusammen.

Von 1000 Radfahrern tragen also 60 einen Helm. Nehmen wir wieder an, daß ein Zehntel davon, also 100 verunfallen davon tragen 6 Personen einen Helm.

Eigentlich müsste jetzt schon offensichtlich sein, wo hier der Hase im Pfeffer liegt. Selbst wenn wir wie oben der Rechnung wegen annehmen, daß ein Helm überhaupt keine Schutzwirkung hat, würden dann 94% der schädelhirntramatisierten Radfahrer keinen Helm getragen haben.

Wenn aber, so wie Herr Prof. Dr. Bock berichtet, es nur rund 85% sind, die nach einem Radunfall ohne Helm schädelhirntraumatisiert in der Neurologie auftauchen, also reichlich doppelt so viele (15% statt 6%) Helmträger in der Neurologie auftauchen wie anteilig in der radfahrenden Bevölkerung vorhanden sind, dann müssen wir aufgrund dessen annehmen, daß ein Helm nicht nur nicht schützt, sondern daß er eventuell sogar schadet, weil sich mit dem Helmtragen das Risiko eines Radfahrers, ein Schädelhirntrauma zu erleiden, deutlich erhöht .  

Wenn wir also annehmen, daß die vorgelegten Zahlen etwas über die Wirkung von Fahrradhelmen aussagen, und das wird ja offenbar unterstellt, dann sagen sie aus, daß das Tragen eines Fahrradhelms das Risiko eines Schädelhirntraumas mehr als verdoppelt!

Die Aufforderung zum Helmtragen ist absurd

Wir können daraus nun unterschiedliche Schlüsse ziehen. Entweder ein Helm schadet tatsächlich in diesem Umfang, oder die Zahlen, mit denen hier argumentiert wurde, sind wertlos. In beiden Fällen empfiehlt sich allerdings, der gegebenen Empfehlung, einen Fahrradhelm zu tragen, vor allem aber der Forderung nach einer Helmpflicht mit gebührendem Mißtrauen zu begegnen.  Die Forderung ist nicht nur wegen des in Relation zu anderen alltäglichen Betätigungen vergleichbar geringfügige Risikos unsinnig, sie ist angesichts der nicht nachgewiesenen Schutzwirkung (um nicht zu sagen: wegen der von Herrn Prof. Dr. Bock belegten Schadwirkung) regelrecht absurd..

"Als Neurochirurg habe ich viele schwer verletzte Menschen behandeln müssen, die von einer Sekunde auf die andere mit gravierenden gesundheitlichen Einbußen leben müssen. Ein Kopfschutz hätte die schweren Verletzungen verhindert."

Dies mag vielleicht so sein, obwohl sowohl der große Feldversuch in Australien [2] als auch die hier pro Helm angeführten Zahlen eher das Gegenteil nahelegen.

Übel an diesem Satz ist (genau so wie an dem Rosstäuschertrick, mit dem die Pressemitteilung begann, siehe oben), daß die weitaus meisten Menschen, von denen Herr Prof. Dr. Bock hier so anrührend spricht, gar keine Radfahrer gewesen sein dürften, sondern z.B. Menschen, denen beim Fensterputzen der Tretschemel umgekippt ist, die eine Treppe hinuntergefallen sind, oder auch Autofahrer, die im Auto, oder Fußgänger, die beim Benutzen eines Zebrastreifens keinen Helm getragen haben und "deswegen" (wie es gerne in diesen Zusammenhängen geschrieben wird, wenn von Radfahrern die Rede ist), eine schwere oder tödliche Kopfverletzung erlitten haben.

"Wenn jedoch die Schutzwirkung des Helms noch immer von zu wenigen Radfahrern ernst genommen wird, kann durch die Einführung einer Helmpflicht für Fahrradfahrer hier Abhilfe geschaffen werden."

schreibt Prof. Bock abschließend in seinem als Leserbrief veröffentlichten Pamphlet der Hannelore-Kohl-Stiftung. Da wird er wohl recht haben. Die Schutzwirkung des Helms wird von den meisten Radfahrern nicht ernst genommen, weil sie eine Chimäre ist, ein Fabeltier, der Phantasie entsprungen. Die gelegentlich angeführten wissenschaftlichen Belege sind, soweit ich sie kenne, Verweise auf, oder schlechte Kopien einer verstaubten und methodisch ziemlich zweifelhaften Vorlage, der sog. Seattle-Studie von Thompson & Rivara [3].

Genaueres dazu konnte man schon vor zehn Jahren im Web nachlesen, deswegen wiederhole ich es hier nicht.

Helme schützen nicht

Pikant ist auch folgendes Detail. Die Hannelore-Kohl-Stiftung hat vor ein paar Jahren in Münster eine Studie unterstützt (sie müsste ihr also bekannt sein), von der ein Abstract im Web verfügbar ist: http://www.egms.de/en/meetings/dgnc2004/04dgnc0134.shtmll [6], welche zu dem Ergebnis kommt:

Ergebnis:

Man sollte derartige Klinikstudien aufgrund der bekannten Fehlerquellen nicht überbewerten, sie sind grundsätzlich nicht geeignet, gesicherte Aussagen über eine mutmaßliche Schutzwirkung von Fahrradhelmen zu machen, und über die Notwendigkeit gleich gar nicht. Immerhin ist dieses Ergebnis aber konsistent mit dem sehr viel robusteren Ergebnis der Untersuchung von Scuffham und Langley [2], bei der die Gesamtwirkung einer erheblichen Steigerung des Helmtragens in einer ganzen Bevölkerung über einen längeren Zeitraum untersucht und keine Schutzwirkung gefunden wurde.

Wolfgang Strobl, Bonn, 18.3.2007

Nachtrag, 25.3.2007

Am Freitag, dem 23.3., also erst gut drei Wochen später, wurde mein Leserbrief zum Unfall in der Baumschulallee dann doch noch veröffentlicht, allerdings übel zugerichtet und gekürzt (von 262 auf 124 Worte) und - entgegen der sonst üblichen Praxis, siehe oben - ohne bzw. unter einer völlig abwegigen Sammelüberschrift abgedruckt, die mit dem Inhalt meines Leserbriefes nicht das Geringste zu tun hatte, siehe das Bild rechts.

U. a. durch das Weglassen des letzten Absatzes (Zusammenhang zwischen Autotyp und Unfallschwere?) und das Vorziehen des davorstehenden Absatzes an den Anfang erhielt mein Leserbrief in der abgedruckten Form einen völlig anderen Tenor. Durch den in der verstümmelten Version nun abschließenden Absatz zu den Sichtproblemen nach rechts hinten im Pkw sieht meine Kritik an diesem Radstreifen und an der von Herrn Albers begonnenen und vom GA weiterbetriebenen  Kampagne in der abgedruckten Version nun so aus, als bestünde mein Hauptanliegen darin, den Unfallverursacher in Schutz nehmen!

Insgesamt ergibt der Leserbrief, so wie abgedruckt, für sich genommen kaum noch einen Sinn. Der wesentliche Punkt meiner kompakt dargelegte Beschwerde ist überhaupt nicht mehr enthalten: hier würde versucht, einem Radfahrer die Schuld zuzuschieben für etwas, das er weder formal noch tatsächlich im Geringsten zu verantworten hat. Wenn es nach Palmströmscher Manier[8] nicht der Radstreifen sein darf, der als Ursache benannt wird, dann wäre nach Logik, Recht und Gesetz nicht etwa zu fragen, wer in der Statistik besonders häufig Opfer ist und warum dieses sich nicht besser geschützt hat (oder warum es dort oder warum es überhaupt radgefahren ist), sondern es wäre dann vielleicht festzustellen, wer besonders häufig Täter ist, oder welcher Autotyp besonders gefährlich, um diesen Typ dann aus dem Verkehr zu ziehen. Bei dem Engagement, das Herr Albers an den Tag legt und mit seinen Ressourcen sollte dies doch ein Leichtes sein.

Der Zusammenhang zum Artikel, auf den sich mein Leserbrief bezog, ist für den Leser kaum noch herzustellen, die Überschrift gibt keinen Hinweis auf den Inhalt, und auch das identische, hier aber mit gegenüber der ersten Leserbriefserie mit vierfacher Fläche abgedruckte Reklamefoto für Helme (jetzt nicht mehr der Deutschen Presse-Agentur, sondern dem Automobilklub ADAC als Quelle zugeschrieben) läßt ein wenig den Eindruck entstehen, hier sei eine gewisse demonstrative, bockige Unbelehrbarkeit am Werke, nach dem Motto "jetzt erst recht" und "wir sitzen hier am längeren Hebel". Nun ja - ich hatte in den zurückliegenden Jahren meine seltenen Leserbriefe dem Bonner Generalanzeiger meist mit der Bedingung "bitte unverändert oder gar nicht abdrucken" geschickt. Diesmal habe ich dies nicht getan - mein Fehler, ich weiß, wird nicht wieder vorkommen.

Verweise

[1] W.Fröscher, Neurologie mit Repetitorium, de Gruyter 1990, und dort aus dem von W.Pöll geschriebenen Kapitel zitiert
  12.1 Traumen des Gehirns und seiner Hüllen
12.1.1 Epidemiologie und allgemeine Angaben zur Pathogenese und Einteilung der Schädel-Hirn-Verletzungen

"Statistischen Angaben zufolge erleiden in der Bundesrepublik jährlich etwa 150.000 bis 200.000 Personen Schädelhirnverletzungen aller Schweregrade. Die weitaus überwiegende Zahl ereignet sich bei Verkehrsunfällen. Bei etwa 30.000-50.000 dieser Fälle liegen schwere bis schwerste Schädelhirnverletzungen vor, von denen etwa 2/3 operativ behandelt werden müssen. Die Zahl der tödlich verlaufenden Unfälle wurde auf jährlich 12.000 beziffert, mit deutlich fallender Tendenz in den letzten Jahren bei gleichbleibender Gesamtzahl an Unfallverletzten. Der Anteil der Kopfverletzungen bei den tödlichen Unfällen liegt bei etwa 60%. Von den Verkehrsunfalltoten, isoliert betrachtet, sterben sogar 70% an Schädelhirntrauma." ...

[2] http://www.ingokeck.de/publikationen/radhelm/rhwirkungslos/
  Scuffham, P.A., & Langley, J.D., Trends in Cycle Injury in New Zealand Under Voluntary Helmet Use, presented at the Third International Conference on Injury Prevention and Control, Melbourne, Australia, February 1996.
Published in Accident Analysis and Prevention (Vol 29,  No. 1, pp 1-9, 1997)
[3] Siehe dazu http://www.ingokeck.de/alte_seiten/verkehr/seattle89kritik.html
[4] http://www.adfc-bw.de/texte/helm/helm.htm  http://www.roble.net/marquis/cached/agbu.une.edu.au/~drobinso/velo1/velo.html
[5] 'Von den insgesamt 78 678 „Fahrradunfällen“ mit Personenschaden waren 15% Alleinunfälle. Bei 3,4% der Unfälle waren mindestens drei Verkehrsteilnehmer beteiligt und bei 82% gab es nur einen weiteren Unfallbeteiligten (64 363). Auch hier war ein Pkw der häufigste Unfallgegner (74%). Bei 8,6% war ein weiterer Radfahrer und bei 6,3% war ein Fußgänger der Unfallgegner. Insgesamt galten 42% aller unfallbeteiligten Radfahrer als Hauptverursacher eines Unfalls. Bei Unfällen mit Pkw war der Radfahrer nur zu 28% und bei Unfällen mit Güterkraftfahrzeugen nur zu 22% der Hauptverursacher des Unfalls. Besonders häufig trug der Radfahrer die Hauptschuld bei Unfällen mit Fußgängern, nämlich zu 64%. Auch bei Unfällen mit Motorrädern war der Radfahrer überdurchschnittlich häufig der Hauptverursacher (zu 58%).'
"Zweiradunfälle im Straßenverkehr 2005", Statistisches Bundesamt
[6] Möllmann, Rieger, Wassmann, Specific patterns of bicycle accident injuries - An analysis of correlation between level of head trauma and trauma mechanism, 55. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie, 2004
[7] (Un)Sicherheit auf Radwegen: http://bernd.sluka.de/Radfahren/Radwege.html
[8] Weil, so schließt er messerscharf, "nicht sein kann, was nicht sein darf".